Durée et simultanéité – A propos de la théorie d’Einstein

von Henri Bergson

Durée et simultanéité – A propos de la théorie d’Einstein
(Dauer und Gleichzeitigkeit – Über die Theorie Einsteins)
Henri Bergson
1. Auflage 1922, Paris, Les Presses universitaires de France
Amazon  – Das Buch wird digitalisiert von der Université du Québec online zur Verfügung gestellt  (in französischer Sprache)

Das GOM-Projekt referiert stichwortartig in seiner Dokumentation mehrere kritische Arbeiten über die Relativitätstheorie von Henri Bergson:

 

1922 – Diskussionsbeitrag, Sitzung der Société Française de Philosophie, 6. April 1922 – Thema der Sitzung: La théorie de la relativité
In: Société Française de Philosophie. Bulletin 22. 1922, Nr. 3, S. 102-107. Abgedruckt in: Bergson: Écrits et paroles. 3. 1959, S. 497-503. – Engl. Übers. in: Bergson and the evolution of physics. Ed.: P. A. Y. Gunter. Knoxville 1969, S. 128-133.

Bergson erörtert nach huldigenden Worten an den Ehrengast A. Einstein („une physique nouvelle, une nouvelle manière de penser“) das Problem der Zeit. Nach allgemeiner Auffassung gilt eine allgemeine Zeit für alle; diese Auffassung ist auch mit der Speziellen Relativitätstheorie vereinbar (S. 103).

– Wie die eine allgemeine Zeit für alle, so gibt es auch eine absolute Gleichzeitigkeit (GLZ) für alle, die intuitiv gegeben ist, unabhängig von mathematischen Formeln oder synchronisierten Uhren; gäbe es sie nicht, würde man keine Uhren bauen, niemand würde sie kaufen (S. 106).

– Einstein erkennt die GLZ für nebeneinander befindliche Ereignisse und Uhren an, bestreitet sie jedoch für voneinander entfernte Ereignisse: für diese Unterscheidung kann er jedoch nicht angeben, „où commence la proximité, où finit l’éloignement?[wo fängt die Nähe an, wo endet die Entfernung?] (S. 106).  Einsteins als benachbart definierte Uhren würden z.B. für intelligente Mikroben als weit entfernt erscheinen, so daß diese Lebewesen diese GLZ bestreiten würden, indem sie sagen: „Ah non! nous n’admettons pas cela. Nous sommes plus einsteiniens que vous, Monsieur Einstein“ (S. 106).  Bergsons Argumentation wird in seinem Buch „Durée et simultanéité“ desselben Jahres eingehend dargestellt und begründet.

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1985 – La pensée et le mouvant: essais et conférences 
Paris, Presses Universitaires de France, 1985 (Quadrige. 78.) – 92. Auflage

Bergson faßt in einer Fußnote über 3 Seiten (S. 37-39) seine bisherige Kritik der Speziellen Relativitäts-theorie zusammen. Der Physiker, Relativist oder nicht, führt seine Messungen in der einen, allgemein gültigen Zeit durch. Eine vierdimensionale Raum-Zeit existiert nur in Berechnungen (calculs) und damit nur auf dem Papier. Das Konzept der Relativisten hat Bedeutung nur für die Mathematik. Es gehört zum Wesen der Raum-Zeit, daß sie nicht wahrgenommen werden kann (S. 37).

– Für die Interpretation der Speziellen Relativitätstheorie ist wesentlich die Unterscheidung zwischen realen Beobachtern und nur vorgestellten Beobachtern (le physicien représenté comme réel): diese Unterscheidung war in der Newtonschen Physik mit einem absoluten Bezugssystem nicht erforderlich; jetzt ist sie erforderlich und neu. Denn in der Speziellen Relativitätstheorie gibt es kein privilegiertes System mehr, alle Systeme sind vielmehr gleichberechtigt. Da eine inertiale Bewegung nicht erkannt werden kann, hält jeder reale Beobachter sein System für ruhend und alle anderen in relativer Bewegung zu seinem System: seine Zeitmessungen stimmen mit denen der realen Beobachter in den anderen Systemen überein (S. 38).

– Zitiert einen Text von Langevin, daß das Relativitätsprinzip im Grunde die Bestätigung der Existenz einer unabhängigen Wirklichkeit der Bezugssysteme ist (l’affirmation de l’existence d’une réalité indépendante des systèmes de référence) (S. 39).

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1992 – Durée et simultanéité : à propos de la théorie d’Einstein [7. Auflage]
1. Auflage. Quadrige.141, Presses Universitaires de France, Paris 1992. Enthält: Vorwort zur 1. Auflage 1922; Vorw. zur 2. Auflage 1923; Anhänge 1-3 zur 2. Auflage

Beschränkt seine Untersuchung auf die Zeit in der Speziellen Relativitätstheorie (S. XI).

– Besteht auf der Reziprozität des Relativitätsprinzips: damit sind alle Inertialsysteme (IS) vollständig gleichberechtigt; der Beobachter im IS(1) trifft über ein anderes IS(2) dieselben Feststellungen wie der Beobachter im IS(2) über das IS(1). Die behaupteten Paradoxa lösen sich auf: es gibt auch für Einsteins Hypothese nur eine allgemeingültige Zeit (S. 25-26; 37-39).

– Analysiert die Grundlagen unseres Zeitbegriffs: Erfahrung der Dauer, Erkenntnis von Vorher und Nachher; in der Wirklichkeit existieren Vorher und Nachher – logischerweise – nicht gleichzeitig: dies kann nur in der Wahrnehmung eines Lebewesens geschehen, das mit Gedächtnis begabt ist. Zeit kann nur von einem lebenden realen Beobachter wahrgenommen werden: „Sans une mémoire élémentaire qui relie les deux instants l’un à l’autre, il n’y aura que l’un ou l’autre des deux, un instant unique par conséquent, pas d’avant et d’après, pas de succession, pas de temps“ (S. 46). Nur die wahrgenommene Zeit ist wirkliche Zeit (temps réel), alle nicht direkt wahrgenommenen, beobachteten Zeiten sind fiktiv.

– Aus dieser Analyse folgt das Urteil über die bei Einstein üblichen zwei Systeme, den üblichen Beobachter in jedem der beiden Systeme, die Lorentz-Transformationen zum Umrechnen der Meßdaten zwischen den Systemen: nur die von einem Beobachter wirklich gemessene Zeit ist wirklich – und alle realen Beobachter in ihren IS sind völlig gleichberechtigt und messen gegenseitig dasselbe, weshalb auch in der Speziellen Relativitätstheorie die eine allgemeingültige Zeit herrscht – und alle über die Lorentz-Transformation berechneten Zeiten sind nur zugeschriebene Zeiten, deshalb fiktiv: „les formules de Lorentz expriment tout simplement ce que doivent être les mesures attribuées …“ (S. 193).

– Die Gleichzeitigkeit (GLZ) soll nach Einstein für nebeneinander befindliche Uhren oder Ereignisse absolut gelten, für voneinander entfernte Uhren oder Ereignisse jedoch nicht: diese Unterscheidung Einsteins zwischen nahe und entfernt hat für die Gültigkeit des Begriffs der GLZ keinen wissenschaftlichen Wert („n’a pas de valeur scientifique„, S. 55); wenn man zwischen zwei Uhren, die nach Einstein nebeneinander stehen und absolute GLZ ermöglichen, eine Mikrobe setzt, dann wird diese Mikrobe beide Uhren als weit voneinander entfernt beurteilen und keine absolute GLZ zugestehen: „Un microbe intelligent trouverait entre deux horloges „voisines“ un intervalle énorme; et il n’accorderait pas l’existence d’une simultanéité absolue …“ (S. 55).

– Das Zwillingsparadoxon (ZWP) mit dem schneller alternden zurückgebliebenen Zwilling ist kein realer Effekt, weil die volle Reziprozität des Relativitätsprinzips (RP) zwischen dem Reisenden und dem auf der Erde Zurückgebliebenen einen gleichartigen Zeitablauf voraussetzt (S. 76-79). Widmet dem Zwillingsparadoxon einen Appendice 1 (S. 183-193): Die zahllosen verschiedenen Zeiten der Speziellen Relativitätstheorie sind fiktiv, es gibt nur eine reale Zeit. Die behaupteten Effekte des Zwillingsparadoxon sind vergleichbar mit den perspektivischen Veränderungen, wenn sich zwei Personen voneinander entfernen: wer die entfernte Person nur noch in Zwergengröße sieht, weiß, daß sich die entfernte Person nicht in einen Zwerg verwandelt hat, und daß sie nach ihrer Rückkehr wieder in ihrer wahren Größe erscheint.  Da Bergson in langen Passagen die Bedingungen der Speziellen Relativitätstheorie samt allen behaupteten Effekten durchspielt und fast ausschließlich nur die Zeitaspekte kritisch analysiert, entsteht streckenweise der Eindruck der Unentschlossenheit, einer teilweisen Akzeptanz der Theorie, was jedoch sachlich überhaupt nicht zutrifft (vgl. Nordensons Kritik).

– Wenn auch nur für den Aspekt der Zeit durchgeführt, handelt es sich um eine fundamentale Zurückweisung aller Lieblingsideen der Relativisten.

– Eine besonders hübsche Idee ist die Mikrobe zwischen den Uhren: damit wird Einstein gezeigt, daß seine Anerkennung der absoluten Gleichzeitigkeit für „benachbarte“ Ereignisse gewissermaßen ein taktischer Fehler war, weil die Begrenzung auf irgendeine „Nachbarschaft“ nicht begründet und sogar leicht widerlegt werden kann, wie die Mikrobe zeigt. Relativisten müßten über die Belebung ihrer „Gedanken“ (die sie für Experimente halten) mit diesen possierlichen Tierchen entzückt sein.

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Siehe auch in diesem Blog:

Einstein: „Bergson hat schwere Böcke geschossen; Gott wird’s ihm verzeihen

Les temps fictifs et le temps réel (Fiktive Zeiten und reale Zeit)

2 Antworten zu “Durée et simultanéité – A propos de la théorie d’Einstein”

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