Sind alle Physiker Autisten?
Nach ihrem seltsamen Verhalten könnte man meinen, Naturwissenschaftler mieden Sozialkontakte und seien mit ihrer Arbeit im Labor – oder im Arbeitszimmer – voll zufrieden. Aber stimmt das?
In einer brillanten Biografie des wohl größten lebenden Mathematikers zeigt die Autorin Masha Gessen (selbst Mathematikerin): Zumindest Mathematiker zeigen Symptome des Asperger-Syndroms, das ist eine milde Form des Autismus, aber ohne geistige Beeinträchtigung. Typische Kennzeichen sind die Fähigkeit (und der Zwang) zum Systematisieren, die Unfähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen, sowie die Gewohnheit, alles wörtlich zu nehmen. Deswegen sind sie resistent gegen Humor und Ironie.
Der Mann, den Gessen einfühlsam porträtiert, heißt Grigory Perelman. Ihm gelang die Lösung eines Jahrhundertproblems: Er bewies die Poincarésche Vermutung. Sie besagt, laienhaft ausgedrückt, dass alles, was irgendwie wie eine Kugel aussieht, tatsächlich auch eine Kugel ist. Für diesen Beweis gab es die renommierte Fields-Medaille (eine Art Nobelpreis der Mathematik) und einen Preis von einer Million Dollar vom Clay-Institut. Beides lehnte Perelman ab. Mehr noch: Er zog sich von der Welt und insbesondere von der Mathematik – also von seinem Leben – zurück, und seitdem hat niemand etwas von ihm gehört.
Gessen zeigt, dass Perelman infolge seiner Unfähigkeit, das Denken anderer zu begreifen (oder überhaupt in Betracht zu ziehen, dass andere Menschen anders denken könnten als er), an eine einzige Wahrheit glaubte. An seine Wahrheit. Die kannte er, und andere mussten sie natürlich auch kennen, ohne dass er es ihnen zu sagen brauchte. Dass dies nicht der Fall war, interpretierte er als Bosheit ihm gegenüber, als Betrug und Verrat. Und solche Sachen existierten nicht in seiner Welt, also wurde er damit auch nicht fertig.
Der Psychologe Simon Baron-Cohen vom „Autism Research Centre“ in Cambridge entwickelte einen Test, der den Grad des Asperger-Syndroms feststellen soll. (Sie können den Test an sich selbst durchführen, siehe link unten.) Mathematiker schneiden deutlich höher ab als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und theoretische Physiker, die ähnlich wie Mathematiker vorgehen? Zumindest P. A. M. Dirac (Nobelpreis für Physik 1933) war sicher ein ASperger. Denn wenn ihn Studenten baten, seine Gedanken nochmals darzulegen, da sie ihn nicht verstanden hatten, wiederholte er seinen Vortrag mit exakt den gleichen Worten. Und das ist typisch für Asperger.
Masha Gessen: Perfect Rigor: A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century. Erhältlich hier.
Peter Ripota
- 28. Februar 2010
- Artikel