Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft

von Harald Zycha

Eine Leseprobe aus dem Buch von Harald Zycha „Natur – Ganzheit – Medizin“ (Verlag BoD 2008, Kapitel 7.3  – Seiten 122 bis 125):

Die Rolle der Mathematik in der Naturwissenschaft

„Wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Mathematik lösen will, unternimmt Undurchführbares.“ So hat vor 400 Jahren der Mathematiker Galilei die Mathematik zum Grundwerkzeug der Physik erklärt. Für den Beginn der klassischen Naturwissenschaft, die sich zur Grundlage der heutigen Technik weiterentwickelt hat, ist diese Vorstellung
verständlich und daher naheliegend. Ohne Einsatz der Mathematik kann es auch keine Anwendung der Physik auf unsere Welt geben!

Weil aber jene Vorstellung, wie wir schon mehrfach gesehen haben, zu einer Überbewertung der Mathematik in der Physik geführt hat, mit all den „Nebenwirkungen“ durch die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Irrtümer, möchte ich diese Problematik an dieser Stelle noch einmal explizit zur Sprache bringen. Vorweg die Feststellung: Die Mathematik ist (im Rahmen der Logik) die einzige wirklich exakte Wissenschaft, über die wir verfügen, aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum anzunehmen, daß man mit ihrem Einsatz in der Physik auch deren Exaktheit auf diese übertragen hätte. Das soll in dem Folgenden deutlich gemacht werden.

Es geht also jetzt konkret um die Frage, was die Mathematik in der Naturwissenschaft leistet: Inwieweit vermittelt sie einen Bezug dieser Wissenschaft zur Realität bzw. zur Wirklichkeit? Kann sie neue Seins-Erkenntnisse zutage fördern?

Hierzu zunächst zwei positive Stellungnahmen. B. Kanitscheider: „In der aristotelischen Wissenschafts-philosophie fehlt eine wesentliche Zielvorstellung, die wir heute als für einen hohen Erfolgsgrad der Erkenntnis unabdingbar ansehen, nämlich die Mathematisierung.“ W. Heisenberg: „Unter allen möglichen Formen des Verständnisses wird die eine, in der Mathematik praktizierte Form als das ‚eigentliche’ Verständnis ausgewählt.“ Damit geht Heisenberg in der Mathematik-Euphorie sicher am weitesten, indem er den philosophischen Zusammenhang, nämlich das Verstehen, von der mathematischen Behandlung der Natur abhängig machen will. Diese zunächst ungebremste Begeisterung für eine solche Auffassung zeigt sich auch in seiner allseits bekannten, aber immerhin doch vergeblichen Suche nach einer mathematischen Weltformel.

Heisenberg räumt aber dann doch an einer anderen Stelle ein, daß wir im Hinblick auf die in der Atomphysik verwendete „hochentwickelte mathematische Sprache, die hinsichtlich Klarheit und Präzision alle Ansprüche befriedigt [ … ] nicht wissen, wie weit [sie] auf die Erscheinungen angewendet werden kann. Letzten Endes muß sich auch die Wissenschaft auf die gewöhnliche Sprache verlassen, da sie die einzige Sprache ist, in der wir sicher sein können, die Erscheinungen wirklich zu ergreifen.“

In diesen widersprüchlichen Äußerungen ist eine gewisse Unsicherheit gegenüber der mathematischen Methode nicht zu übersehen. Und hier setzt dann auch die eigentliche Kritik an. Paul Feyerabend: „Die moderne Wissenschaft hat mathematische Strukturen entwickelt, die alles Bisherige an Systematik und Allgemeinheit übertreffen. Doch um dieses Wunder zu wirken, mußten alle bestehenden Schwierigkeiten in die Beziehung zwischen Theorie und Tatsachen verschoben und durch Ad-hoc-Näherungen und andere Verfahren verdeckt werden.“ Feyerabend illustriert diesen Vorwurf an einem Beispiel aus von Neumanns Arbeiten zur Quantenmechanik.

Hierzu möchte ich noch einmal an die im vorigen Abschnitt zitierten Äußerungen des Wissenschaftstheoretikers Bochenski erinnern: Es ist die Methode, alle jene Schwierigkeiten „auszulagern“, die dem mathematischen Formalismus, weil er eben zu eng ist, im Wege stehen.

Aus dem Kreis um Duhem und Poincaré ist zu vernehmen: „Mathematische Gesetze sind nichts weiter als sinnvolle Konventionen, um das Resultat möglicher Experimente kompakt auszudrücken.“ Straub zitiert Machs Einsicht, „daß Physik nicht auf Mathematik reduziert werden kann, daß die Physik Erkenntnisse grundsätzlicher Natur enthält, die den Menschen nur die Erfahrung gelehrt hat.“

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