Aus der Welt der Wissenschaft

von Wilhelm Wien

Das GOM-Projekt referiert in seiner Dokumentation kritische Vorträge und Aufsätze über die Relativitätstheorie des Physik-Nobelpreisträgers Wilhelm Wien:

1914 – Ziele und Methoden der theoretischen Physik:
Festrede zur Feier d. 332-jährigen Bestehens d. Univ. Würzburg, 11. Mai 1914
In: [Sammlung] Aus der Welt der Wissenschaft, 1921, S. 150-171; hierzu Fußnoten 47-48, S. 301-302.

Beklagt (bereits 1914) die in der Physik aufgetretene „scharfe Trennung von Theorie und Experiment“. „Der Physiker, der nie etwas anderes als Theorie getrieben hat, läuft Gefahr, sich in künstlichen und spitzfindigen Spekulationen zu verlieren, ohne die Zurechtweisung zu erfahren, welche die Natur ihren Beobachtern immer aufs neue angedeihen läßt“ (S. 151).

– Die Leistung des Theoretikers beruht auf der Gestaltungskraft seines Geistes. Er kann zunächst „seiner Phantasie … völlig freien Spielraum gewähren. Für eine rein theoretische Wissenschaft kann demnach der Willkür Tür und Tor offen stehen. […] Wo rein qualitative Theorien aufgestellt werden [hat] häufig jeder Forscher seine besondere Theorie.“ „Auch in der Physik gibt es Gebiete, wo in dieser Weise theoretisiert wird und wissenschaftliche Neuerungen sich nicht beweisen lassen, sondern durch Gewaltmaßnahmen aufgedrängt werden sollen“ (S. 152- 153).

– Die Absicherung der rein qualitativen Theorien der Theoretiker kann nur erfolgen durch die quantitative Über-prüfung: durch diese Forderung „wird die Freiheit des theoretischen Physikers gewaltig eingeschränkt“ (S. 153).

– Die Persönlichkeit des Forschers kann große Autorität gewinnen und dann die Entwicklung eventuell auch ungünstig beeinflussen: z.B. hat Newtons Autorität hundert Jahre lang die Wellentheorie des Lichts von Huygens verdrängt (S. 155).

– Hält die Spezielle Relativitätstheorie  mit Aufgabe der absoluten Zeit und deren Behandlung als imaginäre vierte Raumdimension für ungewiß (S. 157); wenn die Ablenkung des Lichts durch Gravitationsfelder experimentell bestätigt würde, so könnte die Lichtgeschwindigkeit nicht unveränderlich sein, und der Speziellen Relativitätstheorie  wäre der Boden entzogen: „Die heutige theoretische Physik [kann] leicht den Eindruck eines Chaos machen, eines Trümmerfeldes zerschlagener Theorien“ (S. 158). 

Eine der frühesten Klagen (1914!) über „Gewaltmaßnahmen“ zum Aufdrängen von unbewiesenen „wissen-schaftlichen Neuerungen“, vorgetragen in der Festrede für eine Universität.

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1921 – Die Relativitätstheorie vom Standpunkte der Physik und Erkenntnislehre
In: [Sammlung] Aus der Welt der Wissenschaft, 1921, S. 264-286; hierzu Fußnoten 131-145 auf S. 312-320. Selbständig erschienen: Leipzig 1921.

Wien weist darauf hin, daß in der Darstellung der vierdimensionalen Raumzeit („Die Mystik der vierten Dimension schien hier in das helle Licht physikalischer Erkenntnis
gerückt
“ S. 271) „nicht die Zeit selbst diese Rolle spielt, sondern die imaginäre Zeit. An der Tatsache, daß die Zeit etwas völlig anderes ist als eine Raumabmessung vermag weder die Relativitätstheorie noch irgendeine andere Theorie etwas zu ändern“ (S. 271).

– Physikalische Gesetze besitzen immer nur „näherungsweise Gültigkeit …, die bei fortschreitender Erkenntnis durch genauere zu ersetzen sind“; „Das Relativitätsprinzip verlangt aber strenge Gültigkeit und würde nicht als erste Näherung an die Wirklichkeit angesehen werden können“ (S. 271-272): bezeichnet daher „das Relativitätsprinzip nicht eigentlich als ein physikalisches sondern als ein erkenntnistheoretisches“ (S. 271) Prinzip.

– Durch die Theorie „erscheint“ der Äther ausgeschaltet: „Es sollen sich abstrakte Größen, wie elektrische oder magnetische Kräfte mit Lichtgeschwindigkeit im Raum fortbewegen. Es scheint mir sehr fraglich ob hiermit das letzte Wort gesprochen wurde. Die Neigung den Äther wieder einzuführen ist durch die Theorie der Strahlung wieder wachgerufen. Ist aber einmal der Äther wieder da, so werden Zweifel, ob nicht doch eine Bewegung relativ zu ihm physikalische Bedeutung hat, nicht zum Verschwinden zu bringen sein“ (S. 272).

– Allgemeine Relativitätstheorie: „Die mathematische Form der allgemeinen Relativitätstheorie ist nun eine solche, daß eine strenge und eindeutige Festsetzung dessen, was man unter dieser Theorie verstehen will, nicht möglich ist“ (S. 278). Fragt in Bezug auf die Allgemeine Relativitätstheorie, „ob wir wirklich dazu genötigt sind, die bisherige einfache Geometrie als Grundpfeiler der Physik aufzugeben und zu Betrachtungen überzugehen, die mathematisch sicher einwandfrei sind aber die Physik auf unsichern Boden stellen“ (S. 281).

– Sieht die Gefahr, daß die Theorie, allerdings mißverständlich, als erkenntnistheoretischer Relativismus verstanden wird oder ihn fördert (S. 285-286).

– Fazit: „Weder ist die Theorie noch sind ihre Ergebnisse durch die Erfahrung endgültig bestätigt“ (S. 286). Zum Zeitpunkt des Vortrags (März 1921) hatte Einstein bereits seinen Vortrag in Leiden (1920) gehalten und den Äther wieder eingeführt: diese glänzende Bestätigung seiner Kritik scheint Wien noch nicht gekannt zu haben.

– Sein Fazit ist anno 1921 – also während des anhaltenden Jubels über die Sonnenfinsternis-Beobachtungen 1919 – bemerkenswert distanziert.

 

Eine Antwort zu “Aus der Welt der Wissenschaft”

  1. Peter Rösch

    Wien war, wie auch die erststündlichen Akteure der Relativitätstheorie, Schüler des Altstädtischen Gymnasiums in Königsberg, wo der Mathematiker Ferdinand Lindemann die Abituraufgaben zu korrigieren pflegte. Z. B. hieß Wiens Banknachbar Hermann Minkowski.

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