Die Grundlagen der Physik: synthetische Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie
von Hugo Dingler
Das GOM-Projekt referiert stichwortartig in seiner Dokumentation drei Arbeiten aus dem Werk von Hugo Dingler:
1919 – Die Grundlagen der Physik: synthetische Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie
Vereinigung Wissenschaftl. Verleger (de Gruyter) 1919.
Dingler entwickelt eine eigene Theorie der Physik mit dem Anspruch, eine vollständige und widerspruchsfreie Darstellung zu geben.
– S. 96-119: Über Relativität. Die physikalische Forschungspraxis. Relativitätstheorien. Einiges über den Tatbestand. Über den absoluten Raum.
– Die Vertreter der Relativitätstheorie wollen einerseits die „Wirklichkeit in ein logisches System“ einfügen, andererseits soll „ stets die ‘Erfahrung’ als letzter Kronzeuge“ herangezogen werden, und beide Standpunkte werden „völlig unkritisch fortwährend untereinander gemengt“ (S. 97).
– Wenn man ein bestimmtes Problem der Physik nicht lösen kann und deshalb die Grundlagen der Physik ändern will, so ist dies voreilig (S. 98).
– Für die Positionen in der Physik, die „letzten Endes auf dem absoluten Vertrauen in den Geist einiger Forscher [basieren], daß tatsächlich gar keine andere Möglichkeit mehr vorliegt, und daß diese apodiktisch voraussagen können, daß keine mögliche Erfahrung jemals einen anderen Ausweg“ zeigen kann, gibt es keinerlei Gewähr (S. 99).
– Als völlig unbewiesenes Dogma wird verkündet und geglaubt, die Physik werde „lediglich auf Grund von ‘Erfahrungen’ aufgebaut“ (S. 99-100).
– Dem reinen Empirismus fehlt die kritische Einsicht, „daß das meiste an dem, was er als „Sehen“ bezeichnet, durch den Sehenden selbst in die Erscheinung hineingetragen ist“ (S. 101).
– Die behauptete C-Konstanz kann man nicht „irgendwoher wissen“, sondern muß sie empirisch feststellen, aber derartige Definitionen empirischer Größen als „absolut“ müssen zu Problemen führen (S. 103).
– Wir beobachten Bewegungen, „ob aber eine solche absolut oder relativ sei, dies kann niemals die Beobachtung allein liefern, sondern dabei muß stets die Interpretation des Beobachteten ausschlaggebend mitwirken“ (S. 103).
– Analysiert eingehend die Bestrebungen und Möglichkeiten, rein kinematische Betrachtung und beliebige, auch nichteuklidische Geometrien miteinander zu kombinieren: man kann beliebige Deformationen eines Körpers darstellen, als sei der Körper unverändert und nur die Geometrie deformiert, und dabei sogar eine widerspruchsfreie Darstellung erhalten; man kann sogar auf eine „konstante Maßgeometrie“ verzichten und in die Entfernungsfunktion zweier Körper die Zeit als Variable einführen; bezeichnet dies als einen „vielleicht abstrus erscheinenden, aber nicht der Aktualität entbehrenden Gedankengang“ (S. 105). „Irgendeine nicht-euklidische Geometrie [ist] in ihrer praktischen Anwendung nichts anderes als die euklidische Geometrie mit einigen darüber gelagerten Anomalien“ (S. 106): deshalb wird von den Vertretern nicht-euklidischer Geometrien stets betont, daß die euklidische Geometrie „in erster Annäherung“ gilt.
– Kritisiert als gravierende Folge: „Wenn nämlich gewisse Gestaltveränderungen einer „Geometrie“ zugeschrieben werden, so heißt das soviel, als daß sie schon vor Einführung einer Kausalität da sein sollen, also sozusagen ‘grundlos’“ (S. 107).
– Kritisiert die Methodik der „modernen physikalischen Literatur“ als reine Dogmatik: man beginnt mit dem Dogma der Empiristik, „d.h. man bezieht sich auf Beobachtungen und Messungen ohne weitere Kritik“ – „zwei Blätter weiter“ werden ebenso dogmatisch apriorische Prinzipien eingeführt, z.B. das Prinzip der Unmöglichkeit von Fernwirkungen (S. 108).
– Die Begriffsbildungen gehen allen Gleichungen voraus (S. 110).
– „Absolute Aussagen auf Grund rein experimenteller Daten sind unbegründet und daher prinzipiell immer falsch“ (S. 112).
– Begründet die Annahme eines absoluten Raumes: wir nehmen vom Kosmos nur ein „endliches Raumstück“ wahr, bis zu den Fixsternen und Galaxien; außerhalb dieses Raumstücks können wir definitionsgemäß kein Objekt wahrnehmen: damit fehlt uns die Möglichkeit, unser „endliches Raumstück“ zu relativieren und z.B. eine Translation dieses Raumstücks zu messen. In diesen maximalen kosmischen Beobachtungsraum konstruieren wir das absolute Koordinatensystem (weil es durch keine Beobachtung von uns relativiert werden kann) (S. 115). „Fragen wir uns nämlich, ob es bei diesem Raume irgendeine Art von Relativität gibt, so lautet die Antwort: Nein“ (S. 116).
– Identifiziert unseren kosmischen Beobachtungshorizont mit dem absoluten Raum und diesen mit dem Neumannschen Bezugskörper Alpha (S. 118). Die schöne Sottise auf das „absolute Vertrauen in den Geist einiger Forscher“ und deren Apodiktik über den allein seligmachenden Weg thematisiert schon im Sept. 1919 (Datierung des Vorworts) den Weg der Physik in Personenkult und Devotionalienhandel.
– Zeigt, daß bereits die Voraussetzungen der Theorie grundfalsch sind, weshalb auch nur irrige Folgerungen herauskommen können. Leider hat Dingler nicht mehr die Experimente von Aspect u.a. erlebt: er hätte seine Kritik der dogmatischen Prinzipien (Verbot der Fernwirkung) glänzend bestätigt gefunden.
– Die grundsätzliche Bestreitung jeglicher Relativität des Raumes ist die härteste Position der Kritik überhaupt und wird nur von wenigen Kritikern vorgetragen.
– Bezeichnet die vorliegende Arbeit in seinem Aufsatz von 1925 (Bilanz der Relativitätstheorie) als seine „erste Kritik der R. T.“ (S. 214)
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1925 – Bilanz der Relativitätstheorie
In: Süddeutsche Monatshefte. 23. 12.1925
Das breite allgemeine Interesse an der Theorie ergibt sich aus der Tatsache, daß „der Kern der R.T. methodologisch war, d. h. letzten Endes auf die tiefsten Wurzeln und Methoden der physikalischen Forschung und Erkenntnis sich bezog“ (S. 211).
– Wie E. Mach so betrachtete auch Einstein „eine Theorie als ein Mittel zur Beschreibung der Realität […] So ist es erklärlich, wenn wirklich durchschlagende Beweisgründe gegen die R.T. eigentlich nur von methodologischer Seite her erhoben werden konnten“ (S. 212).
– Die heutige Forschergeneration „ist noch fast völlig aphilosophisch aufgewachsen“, alsRückschlag gegen die „disziplinlosen Phantastereien der Identitätsphilosophie“; „das sollen dann die Leute werden, die, wie es in der R.T. der Fall war, „Weltanschauungen“ hervorbringen“ (S. 212).
– Die Einwände gegen die Theorie sind (1) mathematischphysikalische und (2) philosophisch-methodologische.
– Die erste Gruppe zweifelt die sogenannten experimentellen Bestätigungen der R.T. an. „Nun ist vor allem klar, daß experimentelle Bestätigungen niemals eine Theorie beweisen können. Sie schaffen lediglich Gewißheit, daß die Theorie an diesen Stellen experimentell nicht widerlegt wird. Das verringert ihre Bedeutung beträchtlich“ (S. 212). Manche experimentellen Befunde können auch „in ungezählten anderen Theorien ihren Platz finden“ (S. 213). Wenn nach der Aufstellung der Formeln richtig gerechnet worden ist, so muß der „Ansatz“ der Theorie analysiert werden: deshalb wurde der Michelson-Morley-Versuch auf seine Interpretationsmöglichkeiten untersucht und kritisiert. Das regte zu weiteren Versuchen mit dem Licht an (Harress, Majorana, Sagnac) und zu Wiederholungen durch Michelson. Insgesamt ergibt sich eine geringe Anzahl von experimentellen Grundlagen, die zudem nur auf sehr kleinen Effekten beruhen (S. 214).
– Zur zweiten Gruppe (methodologische Kritik): Der reine Empirismus läßt „jedes weitere Nachdenken über die Grundlagen der Physik unnötig erscheinen“ (S. 214). Gegen die Behauptung, Einsteins Annahmen seien die einzig möglichen, wurden als Gegenbeweise widerspruchsfreie andere Relativitätstheorien entwickelt: Mohorovicic, Guillaume, Willigens, v. Raschevsky (S. 216); letzterer hat nachgewiesen, daß eine experimentelle Entscheidung zwischen klassischer Physik und Relativitätstheorie nicht möglich ist, weil alle Exp. in beiderlei Sinn interpretiert werden können (S. 217). G. v. Gleich hat gezeigt, daß in das Formelgebäude der Allgemeinen Relativitätstheorie neue Hypothesen eingefügt worden sind, die keine hinreichende experimentelle Grundlage haben (S. 217). Dingler erkennt der Theorie immerhin das Verdienst zu, die methodologische Diskussion vorangetrieben zu haben. Hält die Theorie aber bereits für überwunden; verweist auf die Tendenz in dem Titel eines Vortrags von Planck: „Vom Relativen zum Absoluten“.
– Dinglers optimistische Bilanz 1925: „Die R.T. war sozusagen nur in der Zeitspanne möglich gewesen, die zwischen dem Untergang der alten naiven Physik und dem Bewußtwerden der Methodologie lag“ (S. 218).
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1969 – Die Ergreifung des Wirklichen
[Teilausg.]: Kap. 1-4 ; Einleitung v. Kuno Lorenz u. Jürgen Mittelstraß. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969.
(Theorie. 1.) Vgl. Dingler 1955. – In der Teilausgabe fehlen das Vorwort des Herausgebers W. Krampf (1955), das Kap. 5: Metaphysik, die Zusätze und das Register.
S. 153-210: Kap. 3: Folgerungen. Exakte Wissenschaft und Wirklichkeit.
– Der „starre Körper“, den Dingler den „deformationsfreien Körper“ nennt, findet sich nicht in der Natur, sondern ist ein Konstrukt der Geometrie: ohne dieses Konstrukt wäre eine messende Geometrie nicht möglich; in der Natur finden sich nur veränderliche Körper (S. 156- 157). Deshalb bezieht sich die Reproduzierbarkeit einer gemessenen Erscheinung immer nur auf dieses Konstrukt (S. 160-163).
– Weist die einzigartige Sonderstellung der euklidischen Geometrie nach: als einzige hat sie ein Fundament „rein ideeller Natur“ und bedarf zu ihrer Begründung „keiner gemessenen Größe“, weshalb sie als einzige ohne „pragmatischen Zirkel“ eingeführt werden kann (S. 165).
– Im Gegensatz dazu erfordern alle nicht-euklidischen, „krummen“ Geometrien (elliptische oder hyperbolische) ein Krümmungsmaß, das eine gemessene Konstante ist, damit sie eindeutig bestimmte Geometrien sind: die Bestimmung dieser gemessenen Konstante kann aber nur in der euklidischen Geometrie vorgenommen werden. Daraus folgt: obwohl auch nicht-euklidische Geometrien mathematisch, in sich widerspruchsfrei konstruiert werden können, führen sie „in der Realisierung dennoch [zu] einem Widerspruch“ (S. 164-165). Ergebnis: die behauptete Einführung einer nichteuklidischen Geometrie beruht auf einem Widerspruch.
– Die gemessene Konstante zur Realisierung einer nicht-euklidischen Geometrie steht – wie die Geometrie selbst – „außerhalb der experimentellen Variierbarkeit und Angreifbarkeit“, d.h. sie steht „außerhalb des Kausalzusammenhangs“: „Die Einführung einer nichteuklidischen Geometrie bedeutet also auch stets die Einführung akausaler Elemente. Sie ist also im strengen Sinn stets <unwissenschaftlich>“ (S. 166).
– Kritisiert den in der Physik häufig anzutreffenden irrigen Rückschluß von einer gefundenen Differentialgleichung (für experimentelle Meßwerte) auf die Richtigkeit der Prämissen des Experiments: erstens gehen in die Gleichungen Interpolationen und Glättungen ein, die keineswegs empirischer Herkunft sind; und zweitens könnte auf die Richtigkeit der Prämissen erst dann geschlossen werden, wenn der Beweis erbracht würde, daß dieselbe Differentialgleichung nicht auch aus anderen Prämissen abgeleitet werden kann. Ohne diesen Beweis ist der Rückschluß auf die Richtigkeit der Prämissen „eine auch rein logisch unhaltbare Behauptung, ein logischer Fehler“ (S. 207). Kritisiert mit größter Gründlichkeit die Methodologie der Naturwissenschaft insgesamt und speziell die der Physik. Wenn Dingler Kritik z.B. an den nicht-euklidischen Geometrien vorträgt, die auf die Allgemeine Relativitätstheorie zielt, so erwähnt er die Theorie nicht eigens: der Leser muß selbst erkennen, daß es sich u.a. auch um eine Kritik der Relativitätstheorien handelt.
– Zeigt sehr schön, daß der „starre Körper“ eine gedankliche Voraussetzung ist und kein physikalisch vorhandener Gegenstand: deshalb muß eine Deformierung physikalischer Körper eine Ursache haben.
– Der irrige Rückschluß auf die Prämissen ist für Spezielle Relativitätstheorie und Allgemeine Relativitätstheorie geradezu die Geschäftsgrundlage; die Beweise für ihre Unzulässigkeit wurden mehrfach erbracht: (1) durch Hasenöhrl für die Masse-Energie-Beziehung; (2) durch Soldner für die Lichtablenkung; (3) durch Gerber für den Merkurperihel. Die Relativisten möchten diese Nachweise gern als lächerlichen Prioritätenstreit abtun: Dingler zeigt ihre wahre methodische Bedeutung für die Unzulässigkeit der Rückschlüsse auf Prämissen.
– Zieht mit dieser Arbeit eine Summe seiner Kritik der Methodologie; sie ist erstmals 1955, ein Jahr nach dem Tod des Autors erschienen.
- 3. November 2011
- Artikel