Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik

von Wilfried Kuhn

Wissenschaftstheorie und Didaktik der Physik
Wilfried Kuhn
Vortrag DPG-Didaktik-Tagungsband 1984, S. 1 – 25.
Auszüge aus dem Vortrag:

3.3 Experimentum crucis

Die letzte Referenzhypothese lenkt uns auf einen zentralen Punkt unserer wissenschaftstheoretischen und didaktischen Überlegungen. Kann durch ein
„experimentum crucis“ eine endgültige experimentelle Ent­scheidung zwischen zwei konkurrierenden Theorien herbeigeführt werden? Wie sind Messungen zu bewerten?

Stimmen einzelne Messungen mit der theoretischen Vorhersage überein, dann kann man daraus noch nicht auf die Gültigkeit der Theorie schließen. Andererseits folgt aus dem nicht erwarteten Ausfall einer Messung noch nicht, daß die Theorie zu verwerfen ist.

Diese Erkenntnis soll an Hand von Test-Situationen, die in der Entwicklung der Physik eine wichtige Rolle gespielt haben, belegt werden.

TYCHO BRAHE erkannte das copernicanische System nicht an und entwarf ein System. bei dem sich alle Planeten außer der Erde um die Sonne bewegen, und dieses ganze System sich dann um die Erde dreht. Er hielt die nicht meßbare Parallaxenbewegung der Fixsterne für das „experimentum crucis“ gegen das copernicanische System. Dabei hatte er jedoch nicht bemerkt, daß diese Testimplikation die Richtigkeit seiner Hilfshypothese voraussetzt, daß die Fixsterne so nahe bei der Erde sind, daß ihre Parallaxenbewegung mit seinen Instrumenten beobachtbar war. BRAHEs Hilfshypothese ist falsch, und deshalb ist das Nichtauftre­ten der gesuchten Parallaxe kein „experimentum crucis“. Die Fixstern­parallaxe, die etwa 1/3 Bogensekunden beträgt, konnte erstmalig 1838 durch den deutschen Astronomen BESSEL gemessen werden.

Im 19. Jahrhundert glaubte man, FOUCAULTs Experiment, in dem festgestellt wurde, daß die Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser ist, sei ein solches „experimentum crucis“, das zwischen der Korpuskulartheorie des Lichtes von NEWTON und der Wellentheorie von HUYGENS entscheiden könne. Man meinte dieses Experiment als Rechtfer­tigung der Wellentheorie ansehen zu können. Ist es dies wirklich?

Die Vorhersage der Korpuskulartheorie, daß die Lichtgeschwindigkeit im Wasser größer als in Luft sei, basiert auf einer ganzen Gruppe von Hypothesen, wobei die Emissions-Hypothese, welche das Licht als Teilchenstrom interpretiert, nur eine einzige, mögliche Prämisse darstellt. Daneben stehen Hypothesen über die Wechselwirkung der Lichtkorpuskel mit verschiedenen Medien. Analog werden in der Wellentheorie Hypothesen über die Ausbreitung von Wellen in ver­schiedenen Medien postuliert, die sich wieder auf eine Menge von Annahmen stützen, welche dann nach einer langen Argumentationskette die Aussage implizieren, daß die Lichtgeschwindigkeit in Luft größer als in Wasser sein sollte.

Man kann aus dem Ausfall des FOUCAULT-Experiments daher nur den Schluß ziehen, daß nicht sämtliche Hypothesen der Korpuskeltheorie richtig sind. Mindestens eine muß falsch sein. Aber das FOUCAULT-Ex­periment sagt nichts darüber aus, welche es ist.

Daraus folgt. daß der Physiker niemals eine isolierte Hypothese, sondern immer nur eine ganze Gruppe von Hypothesen im Rahmen der Gesamttheorie der Kontrolle des Experiments unterwerfen kann (5).

Ein „experimentum crucis“ im strengsten Sinne ist nicht möglich! Es kann lediglich Hinweise darauf geben, welche von zwei rivalisierenden bzw. sich widerspre­chenden Theorien der Erklärung empirischer Daten adäquater erscheint und damit die Tendenz zukünftiger theoretischer Entwicklungen beeinflußt, die dann neue „Entscheidungsexperimente“ implizieren.

 

3.4 Die metaphysischen Hintergrundsüberzeugungen

Wir haben Theorien als hypothetisch-deduktive Systeme gekennzeichnet. Motor und Katalysator der Theoriendynamik sind die in allen Forschungsprogrammen wirksamen metaphysischen Hintergrundsüberzeu­gungen. Während der logische Empirismus metaphysische Ideen völlig auszuklammern versucht, sehen wir heute in ihnen ein sehr wesentliches Element der Theoriendynamik.

Diese Einsicht ist eine der interessantesten Entwicklungen der modernen Wissen­schaftstheorie.

Sie bedeutet aber keineswegs die Wiederauferstehung einer Irrationalisierung. Die metaphysischen Deutungsschemata werden im Rahmen der Theorien-Validierung in rationaler Weise diskutiert (10). Ihre Rechtfer­tigung können sie jedoch nicht nur logisch, sondern erst durch eine „Art historische Vernunft“ erfahren (11). Hypothesen sind kreative Schöpfungen mit metaphysischen Hintergrunds­überzeugungen, die nicht logisch, sondern historisch verstehbar sind. Sie leiten sich nicht aus der Erfahrung ab, bedürfen jedoch einer empirischen Überprüfung.

Die copernicanische Hypothese ist nicht aus der Erfahrung abgeleitet, sondern die Wiederbelebung der platonischen Idee der Harmonie und Schönheit der idealen Kreisbewegung. KEPLERs metaphysische Triebfe­dern offenbaren sich bereits in dem Titel seiner Werke „Mysterium cosmographicum“ und „Harmonices mundi“.

FARADAYs Konzept, den Zusammenhang von elektrischen und magneti­schen Erscheinungen aufzudecken, ist bestimmt durch Ideen der romantischen Naturphilosophie von der „inneren Einheit aller Natur­kräfte“.

Die Suche nach Extremalprinzipien bzw. Erhaltungssätzen ist meta­physisch geleitet von der Idee eines weisen, sparsamen Schöpfers bzw. der zuverlässigen Beständigkeit Gottes (LEIBNIZ).

Der Kritik K. POPPERs am Positivismus kommt das entscheidende Verdienst zu, bei der Analyse physikalischer Hypothesenbildungen nachdrücklich aug die besondere Rolle außerphysikalischer, d.h. meta­physischer Komponenten aufmerksam gemacht zu haben (12). Während dabei POPPERs „normativer“ Ansatz jedoch die Entwicklung der Wissenschaft (Theoriendynamik und Theorieablöse) durch den Prozeß der logischen Falsifikation, im Bereich einer „Logik der Forschung“, bestimmt sieht und für rational rekonstruierbar hält, betrachtet Th. KUHNs (13) „deskriptiver“ Ansatz die in Form radikalen „Para­digmawechsels“ sich vollziehende Theorieablöse als ein „Problem der Psychologie der Forschung“, bei dem „wissenschaftliche Revolutionen“ sich in der Art „religiöser Bekehrungen“ darstellen. In dieser überspitzten von Th. KUHN in der späteren Diskussion mit LAKATOS teilweise wieder zurückgenommenen Form, enthält der KUHNsche Ansatz für eine sozialwissenschaftlich orientierte Didaktik eine Reihe von ideologischen Versuchungen, auf die später noch eingegangen werden soll.

J. LAKATOS‘ „Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme“, die versucht, den normativen und deskriptiven Ansatz der Wissenschafts­theorie ausgewogen in ein gewisses komplementäres Verhältnis zu bringen, enthält entscheidende Ansatzpunkte für moderne didaktische Forschungsprogramme (14).

Für die Didaktik ist der Zusammenhang zwischen der „ars inveniendi“ den Entstehungszusammenhängen, und der „ars iudicandi“, den Begrün­dungszusammenhängen, hinsichtlich des „Verstehens“ von Wissenschaft besonders relevant. Die Analyse der Entstehungszusammenhänge verweist den Wissenschaftstheoretiker wie den Didaktiker nachdrücklich auf die historische Dimension der Disziplin; denn nach MAXWELL läßt sich Physik im Zustand des Entstehens am leichtesten verstehen, und nach M. JAMMER kann man das, was Physik ist, auch nur historisch verstehen.

Die didaktische Wertigkeit der beiden Komponenten des „context of justification“ und des „context of discovery“ für den Lern- und Verstehensprozeß von Physik zu erkennen, definiert eine zentrale Aufgabe der Physikdidaktik in Forschung und Lehre (15). Gelungene Lösungen möchte ich den „context of instruction“ nennen. […]

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